Liebes Hirn, ich stille nicht mehr!

"Wie kommt das denn hier rein?" Till steht vor unserem offenen Küchenschrank (der so hoch hängt, dass keiner der Jungs dran kommen kann) und nimmt das lila Sandkasten-Spielzeug-Sieb vom Tellerstapel. Achselzucken meinerseits. Was nicht bedeutet, dass ich das nicht war. Ich bekenne mich schuldig, nur, dass ich mich einfach nicht erinnern kann. Seit Theos Schwangerschaft, Anfang 2010, ist mein Hirn nicht mehr das, was es früher mal war. Mein Hirn war Super Brain. Ich wusste alles. Wo ich was hingelegt hatte, wo Tills Sachen waren, ich konnte die Vergangenheit ziemlich exakt rekonstruiere...

...ich konnte fernsehen und gleichzeitig dabei telefonieren, ich war absolut multitaskingfähig mit einer extrem hohen Speicherkapazität. Seit 4 Jahren aber ist mein Super Brain in eine Nebelwolke gehüllt. Und was nützt mir eine hohe Speicherkapazität, wenn viele Dinge im Cache verloren gehen? Wann hört das auf? Ich bin nicht (!) schwanger und ich stille auch schon seit 1,5 Jahre nicht mehr. Könnte man meinen, diese Schwangerschaft- bzw. Stilldemenz wäre bald mal vorüber, oder? Nichts ist - wie man am Sandspielzeug auf den Tellern ja heute wieder gesehen hat.

 

Langzeitgedächtnismäßig hab ich keine Probleme: Ich weiß noch die Telefonnummern von meinen Freundinnen aus der Grundschule und Mittelstufe auswendig (wozu, liebes Hirn, es darf überschrieben werden!) aber PIN Nummern haben seit den Kindern keine Chance mehr bei mir. Zwei PIN Nummern sind das höchste der Gefühle - und auch nur, wenn sie in aller Regelmäßigkeit am Geldautomaten abgefragt werden. Ich merke mir Nummern nämlich schon immer so, wie der Finger sie eintippen muss. z.B. waagerecht zur Seite, einen nach oben und diagonal ganz nach unten. Aber mehr als zwei geht im Moment nicht. Alle anderen Nummern muss ich mir im Handy speichern und zwar so einfach, dass ich mit meiner zeitversetzten Stilldemenz sofort drauf stoße, wenn ich meine Kontakte durchgehe. Merke: bewahre Handy und EC Karten immer getrennt voneinander auf...

 

Ähnlich geht es mir, wenn wir neue Leute kennenlernen. Auf Reisen trifft man ständig jemanden. Man reicht sich die Hand, stellt sich vor und es ist jedes Mal das gleiche: sobald ich meinen eigenen Namen ausgesprochen habe, habe ich den vom gegenüber vergessen. Weg. Verpufft. Irgendwo in der Luft. Eigentlich müsste ich mich jedes Mal konzentrieren und den Namen dann ein paar Mal gedanklich wiederholen - aber wisst ihr was? Auch das vergesse ich jedes Mal. Namen sind bei mir leider Schall und Rauch - alle, die ich noch treffe, mögen es mir bitte verzeihen. Ich kann nichts dafür. Das ist dieses verdammte Mutter-Hirn, das sich von alleine umprogrammiert hat - um unschöne Dinge zu vergessen? Schmerzen der Geburt? Unterschiedlich große Brüste beim Stillen? Arne oder Rainer - Wer von euch beiden erinnert mich immer mal wieder an meine Stillbrüste? Sind es die unzähligen schlaflosen Nächte? Schreiende Kinder? Ich hätte ja auch vermutet, dass dieses siebartige meines Hirnes mit dem Nicht-Durchschlafen einhergeht. Aber hey, die Kinder schlafen seit zwei Monaten ohne aufzuwachen, mein Biorhythmus denkt auch nicht mehr an warme Milch aus der Flasche. Ich schlafe wieder am Stück! Der Nebel ist geblieben.

 

Wenn ich Dinge irgendwo hin lege, konnte ich mich früher wenigstens an den Tathergang (liest sich erst so ein bißchen wie Brathering oder?) erinnern, sobald ich, was auch immer ich gesucht hatte, gefunden habe. "Ah ja, stimmt." läutete es dann durch meinen Kopf. Heute läutet eher ein "Wer hat das denn jetzt schon wieder hier hingelegt?". Oft genug gebe im ersten Augenblick sehr gerne Till die Schuld. So wie neulich, als ich bei dieser Laufrad-platzende-Windel-Aktion panisch die Feuchttücher gesucht habe und sie dann in der Spielzeugkiste gefunden habe. Erster Impuls: Danke Till! Zweiter Impuls: Ups, Till war vorhin ja gar nicht da und ich (!) habe hier ja alles aufgeräumt. Self highfive Miss Braindead. Seit dem ich Kinder habe und irgendwas suche oder wieder irgendwas rumliegt, wo es nicht hingehört, mein Puls schon auf dem Weg zur 200 ist, ertappe ich mich ganz oft dabei, dass ich (!) das ja gewesen bin bzw. gewesen sein muss. Und dann geht mein Puls auch meistens sofort wieder runter und ich schäme mich ein kleines bisschen, dass ich fast mal wieder andere dafür verantwortlich gemacht hätte.

 

Wenigstens können meine Augen diese kleinen Aussetzer wieder ausgleichen, zumindest, wenn es um das Suchen von Dingen geht. Es ist ja nicht so, dass Till mich nicht mehr fragen würde, wo etwas ist. Er sucht. Er findet es nicht. Man muss das ja auch mal aus seiner Sicht betrachten: Er ist ja an diese Sucherei gar nicht gewöhnt, Super Brain wusste ja früher auch immer wo alles ist. Super Brain war der Held. Zum Dank an alte Zeiten bin ich jetzt Adlerauge. Ist auch besser so, Dinge suchen nervt mich nämlich.

 

Licht in der Küche ausmachen. Klassiker. Wie oft erinnert mich Till daran? "Schatz, Strom sparen!" Ja, ich weiß das, aber sag das meinem Hirn! Wenn ich gefragt werde, wie alt ich bin: ich rechne immer erst einmal nach. Ich kann heute perfekt abschalten und nicht zuhören, wenn mir jemand etwas erzählt. Das konnte ich früher nicht. Aber als Mutter mit zwei Kindern im Abstand von 1,5 Jahren muss man den Kinderlärm auf Durchzug schalten können. Sonst wird man ja wahnsinnig. Jedenfalls bei meinen Kindern. Das zu können ist super, das auch noch einsetzen können, wenn man tatsächlich gerade eine Frikadelle ans Ohr gequatscht kriegt, perfekt. Wenn allerdings der eigene Ehemann einem etwas erzählt und man selber plötzlich merkt, dass man gar nicht zuhört und man aus Versehen bei der falschen Person abgeschaltet hat - nicht so prickelnd. Da ist wohl plötzlich der Zwischenspeicher voll aufgrund von Reizüberflutung. Aber sowas passiert ja nicht absichtlich. Jedenfalls nicht mir und schonmal gar nicht bei Till.

 

Was mir dagegen gefällt an meinem derzeitigen Hirn: es weiß z.B. im Moment nicht, welcher Wochentag ist. Das finde ich sehr angenehm und kommt aber eher durch die ganze Reiserei und dass es ziemlich egal ist, welcher Tag ist. Das geht Till genauso. Manchmal raten wir, einfach nur so aus Spaß, Tag und Datum. Wer näher dran ist, hat gewonnen. Und manchmal sind wir erstaunt, wie sehr wir daneben liegen. Ist unvorstellbar für alle, die fest im normalen Alltag sind, Montag hassen und Freitag lieben. Es wird auch bei uns früher oder später wieder so sein. Aber genauso muss das als Kind gewesen sein, als Montag einfach Montag war. Den einzigen Anhaltspunkt ohne aufs Handy zu schauen bezüglich Wochentag, hab ich durch meine Facebook Freundin Kati: Wenn sie ihre Füße auf der Couch fotografiert und im Hintergrund das Tatort Logo auf dem Fernseher flimmert, ja, wenn ich Katis Socken sehe, dann ist Sonntag!

 

Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn mein Hirn sich weiterhin nicht für Sonntag oder Montag interessiert, sich der Nebel aber endlich mal lichten würde. Liebes Hirn, ich stille nicht mehr, wann merkst du das endlich?

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Kommentare: 9
  • #1

    Hixel (Dienstag, 18 März 2014 23:49)

    Haha,der Text ist sehr gut getroffen! Es gibt Hoffnung ,meine Mädels sind jetzt 8 & 6 und ich habe dieses Jahr etwas anpacken können,daran konzentriert gearbeitet und dann damit auch noch Erfolg gehabt! Noch letztes Jahr wäre ich zu zerstreut gewesen (-:
    Dafür kann ich mir das aktuelle Datum immer noch nicht wirklich merken. Mein Mann hat mich gebeten doch mal auf die Verfallsdaten bei Joguhrt&co zu achten,was bringt mir das wenn ich lese bis 15.3. haltbar,heute der 18. ist und ich überlege ob nun der 5. oder 10. oder vielleicht der 21. ist??? Aber ist ja irgendwie nicht wichtig,oder?
    Hauptsache man kann über sich lachen (-:

  • #2

    Shogun (Mittwoch, 19 März 2014 02:34)

    Ich glaube ja eher, dass deine Symptome eher dem Handyzeitalter ( die Dinger übernehmen heute doch einfach alles ) in einer Verquickung mit dem normalen " Hey ich bin jetzt Mutter " geschuldet ist.
    Du mußt deinem Handy nur die Aufgaben entziehen und schon wird dein Brain, mit der Zeit, sich gewisse alte Qualitäten wieder aneignen.
    lg von ... na ... weißt du ihn noch :-)

  • #3

    Amelie (Mittwoch, 19 März 2014 08:05)

    Ist klar, dass Männer das nicht verstehen können. Ihr habt ja nicht gestillt. ;-) macht nix. Trotzdem danke für deine antwort! ;-)

  • #4

    Shogun (Mittwoch, 19 März 2014 10:43)

    mmmh...
    du meinst also, dass durch die Muttermilch deine Hirntätigkeiten an beide Kinder übertragen worden sind ? :-) :-) :-)

    Ich versteh dich schon ;-)
    War und bin ja immer noch Papa von zwei inzwischen erwachsenen Kids. Da gehört nun mal die Mutter auch dazu.
    Somit hab ich diese sonderlichen Veränderungen ja alle live miterlebt.
    Glaub mir, es bleibt lustig.

  • #5

    molli (Mittwoch, 19 März 2014 14:03)

    Evtl. ist das Hirn auch ständig im Hintergrund mit Schreiben beschäftigt? Die Texte werden jedenfalls (wenn das überhaupt geht) immer besser. :)

  • #6

    Amelie (Mittwoch, 19 März 2014 15:08)

    Danke Molli!

  • #7

    Ronja (Mittwoch, 19 März 2014 20:43)

    Oh was habe ich gelacht! Mensch da erkenne ich mich wieder! Wie Du sagst Langzeitgedächniss, null Problem.. Pinnnummern, vergiss es!!! neue Geburstage, null go... Namen...äää... hey du... reicht doch auch ;) geschweige denn, dass ich früher ALLE meine Termine kannte und mir jetzt nicht mal merken kann wenn ich das Telefonauflege was ich in den Kalender schreiben will, geschweige denn, dass ich überhaupt was reinschreiben wollte!!!
    Gibt es Hoffnung? Ich bezweifle es. Ich glaube die Hirnzellen die gestorben sind bzw mir sagte man auch, dass sie einfach dem Kind bei der Schwangerschaft gegeben werden, irgendwoher müssen die ersten ja kommen... und nunja in unserem Alter ;) gibt es dann einfach keine neuen mehr... tja, pech gehabt... ich sag auch nicht mehr Stilldemenz... sondern die zellen die ich meiner Tochter gegeben habe.... also in diesem Sinne... äääääää was wollte ich noch schreiben.... Rxxx

  • #8

    Holger & Frauke (Mittwoch, 19 März 2014 22:19)

    Haben beide sehr gelacht! Und sind auf eure Wochentag Amnesie neidisch...

  • #9

    bremer (Freitag, 21 März 2014 16:23)

    Köstlich dein Block - ich weiß gar nicht, aus welchem Erbteil diese Schreibfähigkeit kommt - von mir jedenfalls nicht!